08. Dezember 1873 – Mennoniten auf der Tagesordnung des US-Kongresses
- Redaktion

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Am 8. Dezember 1873 erreicht die Frage der mennonitischen Auswanderung aus Russland den politischen Mittelpunkt der Vereinigten Staaten. Im Repräsentantenhaus in Washington werden an diesem Tag mehrere Petitionen verlesen, die sich alle um dasselbe Anliegen drehen: Mennoniten aus Russland und Preußen wünschen sich zusammenhängende Siedlungsgebiete auf öffentlichem Land in den USA – mit gesicherter Religionsfreiheit und ohne Verpflichtung zum Militärdienst. Im Mittelpunkt steht dabei der Abgeordnete Herr Abraham Smith aus Pennsylvania, der eine Petition „der Vertreter der Mennoniten in Südrußland und Preußen“ einbringt.
Damit wird ein Punkt erreicht, an dem eine vergleichsweise kleine, pazifistische Glaubensgemeinschaft offiziell Teil der großen amerikanischen Debatte über Landnahme, Einwanderung und Staatsbürgerpflichten wird.
Vorgeschichte: Bedrohter Sonderstatus im Russischen Reich
Seit Ende des 18. Jahrhunderts lebten deutsche Mennoniten im Russischen Reich auf der Grundlage kaiserlicher Privilegien:
Wehrfreiheit,
Religionsfreiheit,
und das Recht auf Bildung in eigener Sprache.
In den 1870er Jahren kündigt die russische Regierung jedoch an, diese Sonderrechte auslaufen zu lassen und die Mennoniten in ein allgemeines Rekrutierungssystem einzubeziehen. Für eine traditionell wehrlose und nicht widerstrebende Gemeinschaft bedeutete das eine Existenzkrise.
Delegationen mennonitischer Gemeinden werden daher 1873 nach Nordamerika entsandt, um nach neuen Siedlungsmöglichkeiten zu suchen – in den USA ebenso wie in Kanada. Historiker wie Georg Leibbrandt und C. Henry Smith haben diese Delegationsreisen detailliert rekonstruiert und gezeigt, wie eng dabei mit Regierungen und Eisenbahngesellschaften verhandelt wurde.
Der 08. Dezember 1873 im Repräsentantenhaus
In der Sitzung des Repräsentantenhauses vom 8. Dezember 1873 werden unter der Rubrik „Petitions, etc.“ mehrere Eingaben zum Thema Mennoniten verlesen:
Ein Abgeordneter aus Minnesota (Mr. Dunnell) legt eine Petition von Mennoniten vor, die „bestimmte Privilegien beim Erwerb von öffentlichem Land“ erbitten.
Ein weiterer Abgeordneter (Mr. Lowe) übergibt eine Petition von Herr Amos und anderen Mennoniten – ein Hinweis auf die enge Verbindung zu mennonitischen Gemeinden in Pennsylvania.
Mr. Monroe verweist auf Petitionen „der Vertreter der Mennoniten in Südrußland und Preußen“ hinsichtlich des Erwerbs von Staatsland für eine Kolonie.
Im Zentrum steht jedoch Herr Abraham Smith, Kongressabgeordneter aus Lancaster County, Pennsylvania. Er präsentiert eine Petition, in der die Delegierten der russischen und preußischen Mennoniten darum bitten, ihnen zu erlauben, zusammenhängende Sektionen von Staatsland zu erwerben – sei es käuflich oder nach den Homestead-Gesetzen – und diese bis zu einem bestimmten Zeitpunkt für ihre Ansiedlung zu reservieren.

Mit anderen Worten: Die Mennoniten bitten um die Möglichkeit, geschlossene Siedlungsblöcke zu bilden, anstatt – wie es die amerikanische Norm vorsah – als einzelne Homesteader über weite Räume verstreut zu werden. Dahinter steht das mennonitische Ideal einer Gemeinde in räumlicher Nähe, mit eigenen Schulen, eigener Sprache und einem religiös geprägten Alltagsleben.
Dass an diesem einen Tag gleich mehrere Petitionen zum selben Thema aus verschiedenen Bundesstaaten auf den Tisch kommen, zeigt, wie intensiv hinter den Kulissen bereits verhandelt wurde – nicht nur von den Delegierten aus Russland, sondern auch von nordamerikanischen Mennoniten, die ihren Glaubensgeschwistern den Weg ebnen wollten.
Herr Abraham Smith: Vermittler zwischen Mennoniten und Politik
Der Abgeordnete Herr Abraham Smith (1815–1894) stammte aus dem Umfeld deutschsprachiger Gemeinden in Lancaster County, Pennsylvania – einer Region mit langer mennonitischer Tradition.

Seine Biographien im Biographical Directory of the U.S. Congress und in regionalen Lexika zeigen ihn als juristisch gebildeten, sprachlich versierten Politiker, der die Anliegen der deutschsprachigen, pietistisch und täuferisch geprägten Bevölkerung kannte.
Dass gerade er die Petition der russischen und preußischen Mennoniten einbringt, ist daher kein Zufall:
Er verstand die religiösen Motive (Wehrlosigkeit, Gemeindeleben, Schulfrage),
er kannte die wirtschaftliche Bedeutung fleißiger, Ackerbau treibender Siedler,
und er wusste, wie man solche Anliegen in die Sprache des Kongresses übersetzt – als Frage von Landpolitik, Kolonisierung des Westens und Nutzen für die Nation.
So wird der 8. Dezember 1873 zu einem Datum, an dem sich die Welt der russlanddeutschen Bauern und die Welt der amerikanischen Bundespolitik sichtbar kreuzen.
Vom Petitionsstapel zum „Mennonite Bill“
Die Petitionen verschwinden nicht in den Schubladen. Auf sie folgt in der 43. Legislaturperiode der Entwurf eines eigenen Gesetzes im US-Senat, bekannt als der sogenannte „Mennonite Bill“ (Senatsentwurf S. 655).
Ziel dieses Entwurfs: den Mennoniten aus Russland die Möglichkeit zu geben, zusammenhängende Siedlungsgebiete auf Staatsland zu erwerben und ihren besonderen Status (Wehrlosigkeit, religiöse Eigenständigkeit) zu berücksichtigen.
Die Debatten darüber sind in den Senatsprotokollen sowie in der Edition von Ernst Correll (Mennonite Quarterly Review 1946) vollständig dokumentiert.
Letztlich scheitert der „Mennonite Bill“. Die Mehrheit im Senat und in der öffentlichen Meinung fürchtet:
eine zu starke Konzentration von „Fremden“ auf eigenständige Gebiete,
und eine Aushöhlung des Prinzips, dass alle Bürger grundsätzlich gleicher Militärpflicht unterliegen.
Damit endet der Versuch, auf Bundesebene ein eigenes Gesetz für mennonitische Siedlungsgebiete zu schaffen. Aber die Debatte bleibt nicht folgenlos.
Folgen in den Bundesstaaten: Sonderregelungen statt Bundesgesetz
Obwohl der „Mennonite Bill“ nicht Gesetz wird, reagieren mehrere Bundesstaaten auf die Anliegen der Mennoniten und anderer pazifistischer Gruppen. Historische Untersuchungen – etwa von Alberta Pantle und A. J. Esau – zeigen, wie in Kansas, Minnesota und Nebraska Gesetze entstehen, die zumindest die Frage der Militärpflicht regelten:
Kansas (Gesetz vom 19. März 1874):
Wer eidesstattlich erklärt, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, deren Lehre das Tragen von Waffen verbietet, kann vom Milizdienst befreit werden.
Minnesota (Gesetz von 1877):
Ähnliche Formulierung, ohne die Mennoniten namentlich zu nennen.
Nebraska (Gesetz von 1877):
Ebenfalls Sonderregelungen für religiös motivierte Kriegsdienstverweigerung.
Damit erfüllen die Einzelstaaten einen Teil dessen, was die Petitionen vom 8. Dezember 1873 anstrebten – nicht als geschlossene bundesweite Lösung, aber doch als praktische Erleichterung für mennonitische Siedler im Mittleren Westen.
Gleichzeitig zeigen Historiker wie Bruce Hamm, dass das Scheitern einer bundesweiten Lösung die Mennoniten stärker nach Kanada orientierte, wo man ihnen eher zusammenhängende Siedlungsgebiete und besondere Rechte zusicherte.
Auswirkungen auf die mennonitische Siedlungsgeschichte
Die Petitionen vom 8. Dezember 1873 bilden einen Knotenpunkt in der Geschichte der Russlandmennoniten:
Politische Sichtbarkeit:
Zum ersten Mal werden die Mennoniten als eigenständige Gruppe in den Debatten des US-Kongresses sichtbar – nicht nur als „deutschsprachige Farmer“, sondern als Religionsgemeinschaft mit klar definierten Überzeugungen (Wehrlosigkeit, Gemeindeleben, Bildung in eigener Sprache).
Aushandlung von Minderheitenrechten:
Der Tag markiert den Beginn eines formellen Dialogs zwischen einer pazifistischen Minderheit und einem Nationalstaat, der von seinen Bürgern Militärdienst erwartet. Die Spannung zwischen persönlichem Glauben und staatlicher Pflicht wird hier politisch verhandelt – eine Frage, die die Mennoniten auch später in Kanada, Paraguay oder Mexiko begleiten wird.
Lenkung von Migrationsströmen:
Die begrenzte Bereitschaft der USA, geschlossene mennonitische Kolonien auf Staatsland zu ermöglichen, und die Betonung individueller Homesteads trugen dazu bei, dass sich ein erheblicher Teil der russlandmennonitischen Auswanderung nach Kanada verlagert – dort wurden Reservats- bzw. „Blockland“-Lösungen eher akzeptiert.
Selbstverständnis der Mennoniten:
Für die betroffenen Gemeinden ist der 8. Dezember 1873 ein Beispiel dafür, dass man versucht hat, ohne Aufgabe eigener Glaubensgrundsätze mit der modernen Staatsmacht ins Gespräch zu treten. Auch wenn nicht alle Wünsche erfüllt wurden, zeigt der Vorgang, wie die Mennoniten zunehmend lernen, in politischen Kategorien zu denken und die Instrumente moderner Rechtsstaatlichkeit zu nutzen.
Schluss: Ein Datum zwischen Kanzel und Kongresssaal
Der 08. Dezember 1873 steht damit an der Schnittstelle zweier Welten:
Auf der einen Seite die mennonitischen Dörfer in Südrußland und Preußen, in denen die Nachricht von drohender Wehrpflicht, Schulpolitik und Russifizierung Angst und Aufbruchstimmung zugleich auslöst.
Auf der anderen Seite der Kongresssaal in Washington, in dem Abgeordnete wie Herr Abraham Smith versuchen, diese Sorgen in die Sprache von Petitionen, Landgesetzen und Staateninteresse zu übersetzen.
Der Tag ist kein spektakuläres „Ereignis“ im Sinne eines dramatischen Beschlusses. Aber er markiert einen entscheidenden Schritt in einem längeren Ringen: darum, ob und wie eine kleine, wehrlose Glaubensgemeinschaft ihren Platz in den großen nationalen Projekten von Landnahme, Staatsbildung und Militärpflicht finden kann.
In der Rückschau zeigt sich: Ohne die Petitionen vom 8. Dezember 1873 wäre die mennonitische Siedlungsgeschichte in Kansas, Minnesota, Nebraska – und nicht zuletzt in Kanada – möglicherweise ganz anders verlaufen.
1. Textquellen
Congressional Record, 43rd Kongress, 1. Sitzungsperiode (1873/74).
Protokolle des US-Repräsentantenhauses mit den Petitionen zur Ansiedlung russischer Mennoniten (Pennsylvania, Kansas, Minnesota). Washington, DC: Government Printing Office, 1874.
Ernst Correll: „The Congressional Debates on the Mennonite Immigration from Russia, 1873–1874.“ Mennonite Quarterly Review 20 (1946), S. 178–221, 255–275. – Edition und Analyse der Kongressdebatten, inkl. Bezug auf A. Herr Smith und andere Abgeordnete.
Georg Leibbrandt: „The Emigration of the German Mennonites from Russia to the United States and Canada in 1873–1880.“ Mennonite Quarterly Review 6 (Okt. 1932), S. 205–226; 7 (Jan. 1933), S. 5–41. – Grundlegende Studie zur Auswanderungswelle der 1870er Jahre.
C. Henry Smith: The Coming of the Russian Mennonites: An Episode in the Settling of the Last Frontier, 1874–1884. Berne, IN: Mennonite Book Concern, 1927. – Überblick über die Ansiedlungen in Kansas, Nebraska, Minnesota usw.
Alvin J. Esau: „The Establishment, Preservation and Legality of Mennonite Semi-Communalism in Manitoba.“ Manitoba Law Journal 31, Nr. 1 (2005), S. 81–110. – Enthält eine knappe Rekonstruktion der US-Kongressdebatten und verweist auf Corrells Edition der Petitionen und Gesetzentwürfe.
Blake (B. M.) Hamm: „‘A Keen Eye for Their Own Interests’: Negotiating the 1870s Mennonite Migration to North America.“ Journal of Mennonite Studies 41 (2023). – Neuere Auswertung der politischen, wirtschaftlichen und kirchlichen Akteure bei der Auswanderung, inkl. Rolle amerikanischer Eisenbahngesellschaften und Politiker
Alberta Pantle: „Settlement of the Krimmer Mennonite Brethren at Gnadenau, Marion County.“ Kansas Historical Quarterly 13, Nr. 5 (Februar 1945), S. 259 ff. – Detaillierte Beschreibung der frühen mennonitischen Siedlungen in Kansas, auf die sich die Petitionen des Kongresses bezogen.
GAMEO – Global Anabaptist Mennonite Encyclopedia Online: Artikel „Kansas (USA)“. – Kurzer Überblick zu den russlandmennonitischen Siedlungen in Kansas (Gnadenau, Halstead, etc.) und ihren Hintergründen.
Mennonitische Pressequellen (zeitgenössisch):
– Herald of Truth (Elkhart, IN), Jahrgänge 1873–1875 (Berichte über russische Mennoniten, Reiseberichte und Aufrufe zu Unterstützung und Landkauf).
Biographische Quellen zu Abraham Herr Smith (A. Herr Smith):
– „A. Herr Smith“, Biographical Directory of the United States Congress (online).
– Quill Project / Oxford: Kurzbiographie von A. Herr Smith.
– LancasterHistory.org, Diary Collection, 1836–1978 (Biographischer Eintrag zu Abraham Herr Smith).
2. Bildquellen
Diese Bilder hast du (bzw. kann man) zur Illustration des Artikels verwenden – bitte jeweils die Rechte / Lizenzhinweise der anbietenden Institution beachten.
Porträt von Abraham Herr Smith (A. Herr Smith)
– Fotograf: Mathew Brady / Levin C. Handy, Brady–Handy Photograph Collection, Library of Congress, Prints & Photographs Division, Call Nr. LC-DIG-cwpbh-04085.
– Online u. a. über Wikimedia Commons: „File:Abraham Herr Smith – Brady-Handy.jpg“ (Public Domain).
Innenraum des Repräsentantenhauses (House Chamber), US-Kapitol
– Historische Aufnahme „House Chamber of the Capitol, circa 1908“, Quelle: Library of Congress, reproduziert und kommentiert bei Ghosts of DC („A Glimpse into the Past: Exploring the United States House of Representatives from 1908“).
Ankunft und Alltag russischer Mennoniten in Kansas
– Mehrere Holzstiche aus Frank Leslie’s Illustrated Newspaper (1874/75), digital zugänglich über die Mennonite Library and Archives, Bethel College:
„Im September 1874 kamen 1900 deutsch sprechende russische Mennoniten …“ (Ankunft in New York / Kansas – Familiengruppe, Reisebild).
„Central Kansas – Interior of the Temporary Home of the Russian Mennonites“ (Innenraum des Übergangsquartiers).
„Mennonites at Worship on the Prairie“ und „Gnadenau, Looking East“ (Gottesdienst im Freien bzw. Dorfansicht).
Karte der ausländischen Siedlungen in Kansas (inkl. Mennoniten)
– W. H. Carruth, „A Preliminary Map of Foreign Settlements in Kansas“ (um 1891/1892).
– Digital zu finden über Kansas Historical Society / Kansas Memory („Map of Foreign Settlements in Kansas“) und als Scan aus Kansas University Quarterly.
Allgemeine Karten von Kansas (zur Einordnung der Siedlungsgebiete)
– historische Staatskarten (z. B. George F. Cram: „Kansas 1894“ u. ä.) – verschiedene digitale Reproduktionen bei Kartenhändlern und Archiven.




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