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16. Dezember 1930 – Die Flucht eines mennonitischen Dorfes über den Amur

Aktualisiert: 16. Dez.

Darstellung des zugefrorenen Grenzflusses zwischen Russland und China, der Amur
Darstellung des zugefrorenen Grenzflusses zwischen Russland und China, der Amur

Der 16. Dezember 1930 markiert einen der dramatischsten Tage in der Geschichte der russlandmennonitischen Gemeinden im Fernen Osten der Sowjetunion. In dieser eisigen Winternacht verließ ein ganzes Dorf – Schumanowka – gemeinsam mit einzelnen Familien aus Nachbardörfern seine Heimat, um über den zugefrorenen Amur nach China zu fliehen. Was als akribisch vorbereitete, kollektiv getragene Rettungsaktion begann, wurde in letzter Minute zu einem Wettlauf gegen Verrat, Frost und den drohenden Zugriff der sowjetischen Grenztruppen.


Leben unter der Sowjetherrschaft – scheinbare Anpassung, reale Bedrohung


Die Mennoniten von Schumanowka galten bis 1930 offiziell als vorbildliche Kollektivbauern. Unter der Leitung von Jakob Siemens erfüllte die Kolchose alle staatlichen Vorgaben, lieferte Getreidesteuern vollständig ab, errichtete eine Mühle und erzielte trotz der ideologisch motivierten Wirtschaftspolitik beachtliche Erträge. Gerade diese äußere Anpassung diente jedoch zugleich als Tarnung für einen innerlich längst gereiften Entschluss: das Land zu verlassen, bevor Verfolgung, Deportation oder Verhaftung unausweichlich würden.


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Die zunehmende Präsenz der GPU, das Misstrauen gegenüber Nachbarn und die Erfahrung misslungener Fluchtversuche anderer Gruppen verstärkten den Druck. Die Verantwortung lastete besonders schwer auf der Kollektivleitung, deren Mitglieder bei Entdeckung der Pläne mit dem sicheren Tod rechnen mussten.


Die Vorbereitung – Täuschung, Kundschafter und tiefste Verschwiegenheit


Unter dem Vorwand, staatlich genehmigte Waldarbeiten bei Chabarowsk durchführen zu wollen, ließ die Leitung Pferde und Schlitten beschaffen. Diese Genehmigung erwies sich später als entscheidend: Sie erklärte die auffälligen Vorbereitungen und schirmte das Dorf vor Nachfragen der Behörden ab.


Bauernhof im Dorf Schumanowka,
Bauernhof im Dorf Schumanowka,

Zwei besonders zuverlässige Männer, Isaak Wiens und Wilhelm Fedrau, wurden Anfang November 1930 als Kundschafter ausgesandt. Unter Führung eines chinesischen Grenzführers namens Alexander überquerten sie heimlich den Amur, erreichten das chinesische Dorf Kani-Fu und handelten dort die Aufnahme der Flüchtlinge aus. Ihre erfolgreiche Rückkehr gab der Leitung den Mut, den Fluchtplan endgültig umzusetzen.


Die Vorbereitungen erfolgten im Verborgenen: Frachtschlitten wurden zu Passagierschlitten umgebaut, Lebensmittel verteilt, Kleidung und Decken genäht. Gebetet wurde viel – selbst von denen, die das Beten längst verlernt hatten.


Der geplante 15. Dezember – und die unerwartete Verzögerung


Als Aufbruchstag war ursprünglich der 15. Dezember 1930 festgelegt. Alles war bereit, die Schlitten bepackt, sogar unzuverlässige Dorfbewohner wurden in letzter Minute zur Teilnahme gezwungen, um einen Verrat zu verhindern.


Doch am Abend des 15. Dezember kam es zu einer unerwarteten Wendung: Vertreter des Nachbardorfes New York verlangten eine Verschiebung der Flucht um mehrere Tage. Als sie drohten, andernfalls die Behörden zu informieren, blieb der Leitung keine Wahl. Die Flucht wurde abgesagt – eine Entscheidung, die die Lage noch gefährlicher machte. Eine mehrtägige Verzögerung hätte den sicheren Verrat bedeutet.


Der 16. Dezember 1930 – Entscheidung und Aufbruch


Am folgenden Tag, dem 16. Dezember, trafen sich die Bürger von Schumanowka in geheimer Beratung. Die Entscheidung fiel einstimmig: Noch in derselben Nacht würde das Dorf allein aufbrechen, ohne das zögernde Nachbardorf.


Am späten Abend, bei Temperaturen von bis zu –50 °C, begann die Flucht. Nachdem die Wachposten aus New York sich wegen der Kälte zurückgezogen hatten, wurde gegen Mitternacht das vereinbarte Zeichen gegeben. Kühe wurden freigelassen, Frauen und Kinder in die Schlitten gesetzt, Lichter brannten weiter in den Häusern, das Abendbrot blieb auf den Tischen stehen – sichtbare Zeichen eines endgültigen Abschieds.


Darstellung der Schlittenkolonne die von Schumanowka aufbrach
Darstellung der Schlittenkolonne die von Schumanowka aufbrach

Rund 60 Schlitten mit 217 Personen, davon 175 aus Schumanowka, reihten sich aneinander. An der Spitze schritt der chinesische Führer Alexander, gefolgt von Isaak Wiens. Bewaffnete Meldereiter sicherten den Zug nach beiden Seiten ab. Schweigend bewegte sich die Karawane hinaus in die dunkle Steppe.


Der gefährliche Weg zum Fluss


Um Grenzposten zu umgehen, wählte man wegloses Gelände. Tiefer Schnee, Schluchten, Baumstümpfe und vereiste Anhöhen verlangten den Pferden alles ab. Schlitten brachen, mussten notdürftig repariert oder zurückgelassen werden. In der Nähe der russischen Grenzdörfer Wojkowo und Orlowka, wo eine Maschinengewehrstellung lag, spitzte sich die Gefahr dramatisch zu.


Darstellung der Passage der Schlittenkolone an dem Grenzposten Orlowka
Darstellung der Passage der Schlittenkolone an dem Grenzposten Orlowka

Besonders riskant war der steile Abstieg zum Amur-Ufer. Die Schlitten mussten drei Meter hinabgestürzt und unten aufgefangen werden. Frauen und Kinder rutschten im Schnee hinunter, während Männer mit bloßen Händen arbeiteten, schwitzend trotz der mörderischen Kälte. Dass die Grenzwache unbemerkt blieb, erschien den Flüchtlingen später wie ein Wunder.


Darstellung der Überwindung des steilen Amur Ufers auf russischer Seite
Darstellung der Überwindung des steilen Amur Ufers auf russischer Seite

Über den Amur in die Freiheit


Nach der nächtlichen Überquerung des zugefrorenen Amur erreichte die Schlittenkolonne in den frühen Morgenstunden das Dorf Kani-Fu auf chinesischen Boden. Die unmittelbare Gefahr durch sowjetische Grenztruppen war überwunden, doch der Preis der Flucht zeigte sich nun mit voller Härte. In Kani-Fu bemerkte das Ehepaar Aron Warkentin, dass ihr zweijähriges Töchterchen während der Fahrt in seiner dichten Umhüllung den Erstickungstod erlitten hatte. Für die Mutter bedeutete dieser Anblick einen kaum ertragbaren Schmerz, begleitet von schweren Selbstvorwürfen und tiefer Verzweiflung. Noch am Ort der ersten Unterbringung musste die Gruppe ihr erstes Begräbnis auf chinesischem Boden vollziehen.


Auch die körperlichen Folgen der Flucht waren schwerwiegend. Bei mehreren Männern waren die Zehen an den Füßen erfroren. Das schmerzhafte Erwärmen der Glieder ließ das Ausmaß der Verletzungen erst richtig erkennen. Später, in Harbin, mussten einigen von ihnen die erfrorenen Gliedmaßen amputiert werden.


Die chinesische Bevölkerung nahm die Flüchtlinge nach Kräften auf. Soweit es möglich war, wurden sie in den Häusern der Dorfbewohner untergebracht; andere mussten in ein nahegelegenes Nachbardorf gebracht werden. Für alle jedoch bedeutete die erste sichere Unterkunft nach der Fluchtnacht eine tiefe Erleichterung. An warmen Öfen tauten die vor Kälte erstarrten Glieder auf, und ein einfaches, aber warmes Frühstück wirkte nach der Nacht bei über vierzig Grad Frost wie eine Wohltat. Eine geheizte Stube und eine warme Mahlzeit wurden zum ersten spürbaren Zeichen der Rettung.


Mit der Ankunft in China am 17. Dezember 1930 war die Flucht unmittelbare Flucht aus Russland zwar beendet, die Leiden jedoch nicht. Die Flüchtlinge fanden sich heimatlos in einem fremden Land wieder, dessen Sprache und Sitten sie nicht kannten. Sie waren der Willkür chinesischer Beamter ausgesetzt, mussten umherziehen und immer neue Belastungen ertragen. Erste Jahre später sollten diese Flüchtlinge wieder ein Zuhause finden.


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So endete die Flucht über den Amur: Nicht in jubelnder Erleichterung, sondern in stillem Dank, körperlicher Erschöpfung und tiefer Trauer. Der 16. Dezember 1930 blieb dennoch als jener Tag im Gedächtnis, an dem ein ganzes Dorf den entscheidenden Schritt in die Freiheit wagte – wohl wissend, dass selbst das Überleben seinen hohen Preis fordern würde.

 

Bedeutung des 16. Dezember


Der 16. Dezember 1930 ist mehr als ein Fluchtdatum. Er steht für:


  • den kollektiven Entschluss eines Dorfes, Freiheit über Besitz zu stellen,

  • außergewöhnliche Organisation und gegenseitiges Vertrauen,

  • den Übergang von Verfolgung zu einem ungewissen, aber freien Leben.


Von China aus führte der Weg vieler Flüchtlinge später nach Harbin und schließlich weiter nach Paraguay, Brasilien oder Nordamerika. Die Erinnerung an diese Nacht blieb jedoch zentral für die Identität ihrer Nachkommen.


Die Flucht über den Amur am 16. Dezember 1930 gehört zu den eindrucksvollsten Kapiteln mennonitischer Geschichte. Sie zeigt, wozu eine Gemeinschaft fähig ist, wenn Glauben, Verantwortung und der Wille zum Überleben zusammentreffen. Der Bericht aus Schumanowka ist kein Mythos, sondern ein präzise überliefertes Zeugnis davon, dass Geschichte manchmal in einer einzigen Nacht entschieden wird.


Informationsquellen:

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