Zwölf mennonitische Kundschafter
- Andreas Tissen
- 21. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Die wahre Geschichte einer Suche nach Freiheit, Land und Zukunft – Nordamerika, 1873

Im Jahr 1873 machten sich zwölf Männer aus verschiedenen mennonitischen Gemeinschaften auf eine Reise, die ihr Volk verändern sollte. Vielleicht inspiriert von den zwölf Kundschaftern, die Mose einst ins verheißene Land schickte, zogen auch sie aus – nicht um zu kämpfen, sondern um zu finden: Ein neues Zuhause, fernab von wachsendem politischen Druck, drohender Wehrpflicht und religiöser Unsicherheit.

Die Berufung
Im fernen Russland, in den weiten Ebenen der Ukraine, begann alles mit einem Aufruf: „Wer wird gehen? Wer wird unser Land erkunden? Wer wird sehen, ob es einen Ort gibt, an dem wir wieder in Frieden leben können?“Die Antwort kam leise, aber bestimmt. Aus der "Altkolonier-Gemeinschaft" (Bergthal), einer konservativen, tief verwurzelten Gemeinschaft, erhoben sich Jacob Peters und Heinrich Wiebe.
Gleichzeitig meldeten sich aus der "Kleinen Gemeinde" David Klassen und Cornelius Toews. Sie würden gemeinsam mit den Hutterischen Brüdern, Paul und Lorenz Tschetter, reisen – verbunden durch eine gemeinsame Hoffnung.
Die 12 Delegierten der Mennoniten und Hutterer aus Südrussland.
Über den Ozean
Die Gruppen reisten auf verschiedenen Wegen. Die Bergthaler begannen am 4. März 1873 ihre lange Reise von Nikolaievsk über Berlin und Hull nach Liverpool. Dort bestiegen sie die S.S. Scandinavian – ein raues, karges Schiff, das sie über den atlantischen Ozean in eine neue Welt bringen sollte. Am 8. April liefen sie in Portsmouth, Maine, ein – müde, aber voller Erwartung.
Die "Kleine Gemeinde" brach später auf: am 26. April, über Kherson und Odessa, dann Lemberg, Hamburg – und schließlich mit der S.S. Silesia über den Ozean. Am 20. Mai standen sie im Hafen von New York, bereit für das Unbekannte.

Suche nach Frieden und Heimat
Die Gruppen waren zwar geografisch getrennt, doch geistig vereint. Sie alle suchten das Gleiche: Religionsfreiheit, Land für ihre Nachkommen, Frieden mit Gott und den Menschen.
Die Bergthaler wurden bald von William Hespeler empfangen, der sie durch Kanada führte – von Montreal nach Kitchener, Toronto und schließlich Elkhart, wo sie Johann Funk, einem einflussreichen mennonitischen Verleger und Prediger, begegneten. Dort predigte Heinrich Wiebe unter Tränen: „Möge der Herr uns den rechten Weg zeigen.“
Die "Kleine Gemeinde" fand ebenfalls Aufnahme in Elkhart, verbrachte dort Tage des Gebets und der Gespräche – auch wenn Funk zu dieser Zeit abwesend war. Dann zog es sie weiter – zu Feldern, Städten und Wäldern, die vielleicht ihre neue Heimat werden sollten.

Das verheißene Land?
Sie erkundeten Kansas, Texas, Minnesota, Manitoba, Nebraska – fuhren mit Zügen, ritten auf Wagen, kampierten in Zelten, predigten in Versammlungshäusern, verhandelten mit Offiziellen.
In Fargo, westlich des Red River, blickten sie über die weiten Prärien. Es war still. Nur der Wind flüsterte durch das hohe Gras. Tobias Unruh, einer der anderen Delegierten, stand am Rande eines Hügels bei St. Joseph (heutiges Walhalla, ND) und schrieb:
„Ich schaute nach Osten, dachte an meine Familie – mein Herz blutete, und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Doch ich musste mich wieder der Aufgabe widmen, für die ich hier war.“

Zweifel und Entscheidung
Nicht alle waren sich einig. Texas war heiß und fremd. Manitoba war kalt, doch bot Sicherheit. Das Land in Kansas war fruchtbar, aber würde es Frieden geben? Die Kundschafter diskutierten, beteten, stritten und vereinten sich wieder.
Dann – am 5. Juli 1873 – erschien ein Gedicht in der Manitoba Free Press, fast wie ein Zeichen. Während sie noch im Land unterwegs waren, schien auch Kanada zu rufen: „Kommt, ihr Männer des Glaubens, euer Platz ist hier.“

Die Rückkehr und der Auftrag
Am 26. Juli 1873 erhielten die Bergthaler und Kleine Gemeinde in Ottawa den ersehnten Lowe-Brief – ein Dokument, das ihnen Religionsfreiheit und Militärbefreiung zusicherte. Der Himmel schien sich zu öffnen.
Am 7. August waren die Bergthaler zurück in Russland. Die Hutterer und Unruh folgten im September. Mit ihnen kamen Geschichten, Karten, Briefe – und eine Botschaft:
„Es gibt ein Land, in dem wir unsere Kinder im Glauben erziehen können. Es ist nicht perfekt – aber es ist möglich.“

Vollständiger "Lowe-Brief" (Privilegien)
Brief von John Lowe an die mennonitischen Delegierten aus Russland nach Manitoba
Meine Herren,
Ich habe die Ehre, Ihnen im Auftrag des ehrenwerten Ministers für Landwirtschaft auf Ihr heutiges Schreiben zu antworten und Ihnen die folgenden Tatsachen bezüglich der den Siedlern gebotenen Vorteile sowie der den Mennoniten gewährten Freiheiten mitzuteilen, wie sie durch kanadisches Gesetz und durch Verordnungen Seiner Exzellenz, des Generalgouverneurs im Rat, festgelegt sind, zur Information für deutsche Mennoniten, die beabsichtigen, über Hamburg nach Kanada auszuwandern:
Eine vollständige Befreiung vom Militärdienst wird den christlichen Glaubensgemeinschaften, die Mennoniten genannt werden, gesetzlich und durch Ratsverordnung gewährt.
Eine Ratsverordnung vom 3. März dieses Jahres sieht vor, acht Townships in der Provinz Manitoba für kostenlose Landzuteilungen unter der Bedingung der Ansiedlung gemäß dem Dominion Land Act zu reservieren. Das heißt: „Jede Person, die das Oberhaupt einer Familie ist oder das 21. Lebensjahr vollendet hat, hat Anspruch darauf, für ein Viertel eines Landabschnitts oder eine kleinere Menge unbeanspruchten Dominion-Landes eingetragen zu werden, um einen sogenannten Homestead zu sichern.“
Die genannte Reservierung von acht Townships ist ausschließlich für die Mennoniten bestimmt, und die kostenlosen Landzuteilungen bestehen jeweils aus einem Viertel Landabschnitt, also 160 Acres, wie im Gesetz festgelegt.
Sollte sich die mennonitische Siedlung über die durch die Ratsverordnung vom 3. März reservierten acht Townships hinaus ausdehnen, werden auf dieselbe Weise weitere Townships reserviert, um den vollen Bedarf der mennonitischen Einwanderung zu decken.
Wenn die mennonitischen Siedler im nächsten Frühjahr nach der Besichtigung der acht reservierten Townships es vorziehen, andere unbesetzte acht Townships zu erhalten, wird ein solcher Tausch erlaubt.
Zusätzlich zur kostenlosen Landzuteilung von einem Viertel Landabschnitt (160 Acres) für jede Person über 21 Jahre bei Ansiedlung besteht das gesetzliche Recht, die restlichen drei Viertel des Abschnitts für einen Dollar pro Acre zu kaufen, um somit den vollständigen Abschnitt von 640 Acres zu erwerben – das ist die größte Menge an Land, für die eine Einzelperson ein Patent von der Regierung erhalten kann.
Der Siedler erhält nach dreijährigem Aufenthalt und gemäß den Bestimmungen des Dominion Land Act ein Patent (Besitzurkunde) für das kostenlose Land.
Im Falle des Todes eines Siedlers können die gesetzlichen Erben das Patent für das kostenlose Land beantragen, wenn sie nachweisen, dass die Ansiedlungspflichten für drei Jahre erfüllt wurden.
Ab dem Moment der Besiedlung erwirbt der Siedler ein „Homestead-Recht“ an dem Land.
Den Mennoniten wird gesetzlich das uneingeschränkte Recht gewährt, ihre religiösen Grundsätze auszuüben, ohne jede Art von Belästigung oder Einschränkung; dasselbe gilt für die Erziehung ihrer Kinder in Schulen.
Das Recht, eine eidesstattliche Erklärung durch eine feierliche Bekräftigung zu ersetzen, ist gesetzlich gewährt.
Die Regierung von Kanada verpflichtet sich, für mennonitische Familien guten Charakters Fahrkarten von Hamburg bis Fort Garry bereitzustellen, und zwar zum Preis von dreißig Dollar pro erwachsene Person über 8 Jahren; für Personen unter 8 Jahren zum halben Preis, also fünfzehn Dollar; und für Kleinkinder unter einem Jahr zum Preis von drei Dollar.
Der Minister hat mich ausdrücklich beauftragt zu erklären, dass diese Preisregelung für die Jahre 1874, 1875 und 1876 nicht geändert wird.
Ich habe ferner anzugeben, dass, falls der Preis danach geändert wird, er bis zum Jahr 1882 vierzig Dollar pro erwachsene Person nicht überschreiten wird, Kinder entsprechend günstiger – vorbehaltlich der Zustimmung des Parlaments.
Die Einwanderer werden für den Teil der Reise zwischen Liverpool und Collingwood mit Proviant versorgt; während der übrigen Reiseabschnitte müssen sie sich selbst verpflegen.
Ich habe die Ehre zu sein, meine Herren, Ihr gehorsamer Diener,
John Lowe Sekretär des Landwirtschaftsministeriums
An:David Klassen
Jacob Peters
Heinrich Wiebe
Cornelius Toews
Mennonitische Delegierte aus Russland
Eine Entscheidung für Generationen
So wie einst die zwölf Kundschafter in die Hügel Kanaans blickten, so blickten diese zwölf Männer auf die Prärien Nordamerikas. Einige ihrer Gemeinden sollten bald auswandern – zuerst zögerlich, dann in Scharen.

Die Kundschafter hatten das Land gesehen. Nun mussten andere den Schritt wagen. Was sie fanden, war kein Paradies – aber ein neues Kapitel.

Informationen aus: Preservings, no. 34 (2014)
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