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John Peter Klassen (1888–1975) Der Mann hinter der Bleimedaille

Aktualisiert: vor 3 Tagen

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John Peter Klassen war einer der prägenden mennonitischen Künstler des 20. Jahrhunderts – Bildhauer, Grafiker und Lehrer. Sein Lebensweg führt von den mennonitischen Steppendörfern der Ukraine über die Wirren von Krieg und Revolution bis in die Kunstszene Nordamerikas. Zugleich ist sein Name unlösbar verbunden mit einer kleinen Bleimedaille, die aus den Resten des Krieges geformt wurde und bis heute als Symbol für Dankbarkeit und Frieden steht.


Herkunft und Kindheit in der Ukraine


John Peter Klassen wurde am 8. April 1888 in Kronsgarten geboren, einem Dorf am Nordrand der mennonitischen Kolonie Chortitza in der Ukraine.


Als er etwa ein Jahr alt war, zog die Familie auf neues Land westlich des Dnepr und gehörte zu jener Gruppe mennonitischer Siedler, die die Tochterkolonien Miloradowka und Jekaterinowka gründeten. Dort wuchs Klassen mit drei Brüdern und einer Schwester auf.


Sein Vater war nicht nur ein erfolgreicher Landwirt auf einem großen Hof, sondern zugleich Prediger der kleinen Dorfgemeinde – eine typische Verbindung von landwirtschaftlicher Arbeit, geistlicher Verantwortung und familiärer Strenge, wie sie viele russlandmennonitische Dörfer prägte.


Die Kindheit auf der Steppe war einfach, aber nicht bildungsfern. Für die weiterführende Schule mussten die begabten Kinder in die Zentren der Kolonien geschickt werden. So kam der junge John nach Chortitza an die Zentralschule für Jungen – eine wichtige Weichenstellung für seine weitere Ausbildung.


Vom frommen Theologiestudenten zum Künstler


Nach der Schulzeit gehörte Klassen zu den wenigen besonders befähigten Schülern, die ein Studium aufnehmen durften. Ursprünglich sollte er Theologie studieren und später als Prediger zu seinem Volk zurückkehren – ein Plan, den seine Familie und die Dorfgemeinschaft nachdrücklich unterstützten. Wegen der Unruhen der Revolution von 1905 schickten ihn die Eltern nicht nach Moskau, sondern zunächst an eine Handelsschule in Ekaterinoslaw; bald aber öffnete sich ein anderer Weg.


1906 durfte John nach Basel in die Schweiz reisen, wo bereits ein Onkel Theologie studierte. Dort – und später in weiteren Studienorten in der Schweiz – setzte er sich intensiv mit Sprachen, Philosophie, Theologie und schließlich auch mit der Kunst auseinander. In dieser Zeit lernte er den ebenfalls mennonitischen Studenten Abram Enns kennen. Aus der Korrespondenz der beiden Freunde ist bekannt, wie tief Klassen in diesen Jahren um seinen Weg rang: zwischen dem frommen, theologisch geprägten Ideal seiner Eltern und der immer stärker werdenden Berufung zur Kunst.


Schließlich entschied er sich endgültig für die Kunst und setzte seine Ausbildung an renommierten Kunstschulen in München und Berlin fort. Für seine Heimatgemeinde war dies ein Bruch mit den Erwartungen; in Briefen klagt er darüber, wie fremd und suspekt seinen Verwandten die Kunst sei. Dennoch blieb er seinem Volk innerlich verbunden – ein Spannungsfeld, das sein ganzes Leben bestimmte.


Erster Weltkrieg, Revolution und Machno-Banden


Mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurde Klassen nach Russland zurückberufen. Als Mennonit und Pazifist musste er nicht zur Waffe greifen, sondern tat Dienst in einem Ambulanzzug – im Sanitäts- und Transportdienst an der Front. Dort erlebte er Elend, Verwundung und Tod aus nächster Nähe. Diese Erfahrungen prägten sein künstlerisches Schaffen für den Rest seines Lebens; immer wieder tauchen in seinen Arbeiten Leid, Trost und die Frage nach Sinn und Hoffnung auf.


Nach dem Krieg folgte die Russische Revolution, der Bürgerkrieg und die Terrorherrschaft der Machno-Banden in den mennonitischen Gebieten der Ukraine. Die Dörfer um Chortitza und Molotschna wurden überfallen, geplündert und verwüstet; viele Mennoniten verloren Hab und Gut, manche ihr Leben. Klassen selbst erlebte diese Gewalt direkt mit. Später hieß es, vieles von dem, was er in Holzschnitten, Zeichnungen und Plastiken ausdrückte, sei ohne diese Schreckensjahre nicht zu verstehen.


Zugleich beteiligte er sich intensiv an den Bemühungen um Auswanderung. Mehrfach reiste er nach Moskau, um die nötigen Genehmigungen für die Emigration der Mennoniten zu erwirken. 1923 gelang es schließlich, dass etwa 20.000 russlandmennonitische Flüchtlinge nach Kanada auswandern konnten – Klassen und seine junge Familie gehörten dazu.


Die Bleimedaille: „Aus Krieg und Zerstörung Frieden formen“


Inmitten von Hunger, Bürgerkrieg und Verwüstung entstand die Geschichte, die Klassen als „Mann hinter der Bleimedaille“ bekannt machte. Anfang der 1920er-Jahre litten die mennonitischen Kolonien unter einer schweren Hungersnot. Durch die Hilfe nordamerikanischer Mennoniten, organisiert über das neu gegründete Mennonite Central Committee (MCC), wurden Lebensmittel, Kleidung und später auch landwirtschaftliche Maschinen – insbesondere Traktoren – in die Ukraine gebracht.


Um dieser Hilfe Ausdruck der Dankbarkeit zu geben, sammelte Klassen in seinem Dorf leere Patronenhülsen und Geschosse ein – die Relikte des Krieges – und schmolz sie ein. Aus dem Blei formte er kleine Medaillen. Auf ihnen ist – in der späteren kindgerechten Nacherzählung – ein Helfer zu sehen, der Brot an hungernde Kinder verteilt: ein Bild für die Liebe der fernen Glaubensgeschwister, die aus Zerstörung und Tod neues Leben ermöglichten.


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Diese Bleimedaillen wurden zu einem symbolischen Zeichen: „aus Krieg und Zerstörung Frieden formen“. Sie verdichten die ganze Geschichte der Hungersnot von 1921/22, der mennonitischen Solidarität und der MCC-Hilfe in einem einzigen Objekt. Ein Exemplar dieser Medaille befindet sich heute im Kauffman Museum in Kansas, wo sie als eindrückliches Zeugnis mennonitischer Friedens- und Hilfstradition aufbewahrt wird.

 

Emigration nach Kanada und USA


1923 verließ Klassen zusammen mit seiner Frau Anna, geborene Dyck – der jüngsten Tochter des Chortitza-Bischofs Ältester Isaak Dyck – und dem ersten Sohn die Ukraine. In Viehwaggons, die nur nachts fahren durften, ging die Reise zunächst nach Lettland, dann mit dem Schiff nach England und weiter auf der Empress of Scotland nach Quebec. Von dort fuhr die Familie per Zug nach Rosthern in Saskatchewan und schließlich weiter nach Edmonton (Alberta), wo Klassen zunächst als Arbeiter in einer Ziegelei arbeitete.


Doch seine Zukunft lag nicht im Ziegelbrennen. In Bluffton, Ohio, suchte das mennonitische Bluffton College gerade nach einem Kunstlehrer. Präsident Samuel K. Mosiman wurde auf den hoch ausgebildeten Künstler aufmerksam, der in Kanada als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Er setzte sich bei den US-Behörden für dessen Einreise ein. Bereits 1924 konnte die Familie in die USA übersiedeln – ein Wendepunkt in Klassens Leben.


Professor für Kunst am Bluffton College


Von 1924 bis in die späten 1950er-Jahre war John P. Klassen praktisch die gesamte Kunstfakultät des Bluffton College (heute Bluffton University). Er begründete dort die Tradition der Bildenden Künste und prägte Generationen von Studierenden – oft in sehr einfachen Räumen: sein erstes Atelier war eine umfunktionierte Garage hinter dem Heizhaus, die er sich mit dem Hochschul-Lieferwagen teilte.


In Bluffton unterrichtete er nicht nur Zeichnen, Malerei und Bildhauerei, sondern zu Beginn auch Deutsch. Parallel dazu arbeitete er unablässig an eigenen Werken. Zu seinen frühen bedeutenden Arbeiten in Bluffton gehören Marmorbüsten von Menno Simons und vom ersten College-Präsidenten Noah Hirschy, die bis heute den Eingang der Bibliothek schmücken. Weitere Porträts, Reliefs und Plastiken folgten – darunter Bronzebüsten von Förderern des Colleges sowie Werke seiner Schüler.


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Klassens Werk ist in seiner Themenwahl eng mit seinem Glauben und seiner Biografie verbunden:


  • Biblische Motive, etwa in der Steinplastik Der barmherzige Samariter, die er noch im hohen Alter schuf und dem College schenkte.


  • Mennonitische und ukrainische Themen, etwa der sitzende Kobzar, eine Skulptur des ukrainischen Barden, die an ein nie realisiertes Großdenkmal an den Ufern des Dnepr erinnert.


  • Szenen aus dem Leben der Russlandmennoniten, wie Pflügen auf den Steppen oder das Leid von Müttern und Kindern in der Bürgerkriegszeit.


Seine bevorzugten Medien waren Holzschnitt und Zeichnung, kleinere Bronzeskulpturen und Reliefs, aber auch Arbeiten in Stein und Gips. Zwar bedauerte er später, dass ihm die Zeit für große monumentale Werke fehlte, doch gerade die Konzentration auf kleinere Formate verlieh seinem Schaffen eine große Dichte und Intimität.

 

Persönlichkeit, Glaube und Vermächtnis


Schüler beschrieben Klassen als zugewandten, humorvollen, aber anspruchsvollen Lehrer, der selbst in begrenzten Begabungen etwas entdecken und fördern konnte. Seine Kunst sollte nie bloß dekorativ sein; sie sollte „bedeutsam“ sein, wie er sagte, das Leben in seiner Schönheit wie in seinem Leid widerspiegeln und geistliche Dimensionen berühren.


Bis weit über sein achtzigstes Lebensjahr hinaus arbeitete er künstlerisch. Am 6. August 1975 starb John Peter Klassen in Bluffton, Ohio, wo er seit fünf Jahrzehnten gelebt und gewirkt hatte.


Heute gilt er als eine der zentralen Künstlerfiguren im mennonitischen Umfeld des 20. Jahrhunderts:


  • als Brückenbauer zwischen der russlandmennonitischen Welt der Ukraine und der nordamerikanischen Mennonitenkirche,


  • als Pionier der Kunst an einem mennonitischen College, das er mitprägte,


  • und als Friedenskünstler, dessen kleine Bleimedaille bis heute davon erzählt, wie aus Patronen und Kriegsmetall ein Bild der Barmherzigkeit werden kann.


So steht der Name John P. Klassen nicht nur für Holzschnitte, Skulpturen und Reliefs – sondern für die Überzeugung, dass Kunst aus tiefster Not geboren werden und dennoch Hoffnung und Frieden sichtbar machen kann.


Literaturverzeichnis

Gedruckte / wissenschaftliche Literatur

  • Klassen, P. (2008). John P. Klassen and the beginnings of the art legacy at Bluffton University. Mennonite Life, 63(1).

  • Kehler, L. (1969). John P. Klassen—Artist and teacher. Mennonite Life, 24(4), 147–150.

  • Loewen, H. (1987). A Mennonite artist as a young man: The letters of John P. Klassen to a friend (1905–1913). Journal of Mennonite Studies, 5, 21–36.

  • Miller, B. (1962). J. P. Klassen as an artist. Mennonite Life, 17.

  • Utz, L. (1984). John Peter Klassen: An artist’s legacy. Scope, 71(5), 9–12.

  • Mennonitisches Lexikon. (o. J.). Bildende Kunst. In MennLex V (Online-Ausgabe).

  • Weaver, L. D., & Huston, A. (Illustr.). (2014). Swords to plowshares: The creation of John P. Klassen’s Mennonite Central Committee medallion. Bluffton, OH: Lion and Lamb Peace Arts Center of Bluffton University.


Online-Artikel und Webseiten

  • Christian Leader. (2020, 13. März). More precious than gold: Lead medal brings story of MCC’s beginning to life at centennial event. Christian Leader. Verfügbar unter https://christianleadermag.com [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Anabaptist World. (2020, 9. März). More precious than gold. Anabaptist World. Verfügbar unter https://anabaptistworld.org [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Eden Mennonite Church & Kauffman Museum. (2014, 21. Dezember). Lisa Weaver presents “Swords to plowshares” at Kauffman Museum [Veranstaltungsankündigung]. Eden Mennonite Church. [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Bluffton University. (o. J.). Art on campus. Bluffton University. Verfügbar unter https://www.bluffton.edu [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Bluffton Forever. (o. J.). Peter Klassen, Bluffton’s first artist. Bluffton Forever. Verfügbar unter https://www.blufftonforever.com [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Bluffton Icon. (o. J.). Legacy of artist John Peter Klassen. Bluffton Icon. Verfügbar unter https://www.blufftonicon.com [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Bluffton University Archives. (o. J.). Klassen bronze pieces [Pinterest-Bildertafel]. Bluffton University Archives. Verfügbar über https://www.pinterest.com [Zugriff: 3. Dezember 2025].

  • Find A Grave. (o. J.). John Peter Klassen (1888–1975). Find A Grave. Verfügbar unter https://www.findagrave.com [Zugriff: 3. Dezember 2025].


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